Der Förderverein „Kinderheim Bindura“ begeht in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen. Zum Auftakt der Jubiläumsfeierlichkeiten haben die Organisatoren Anke Glaser (früher Nieswand) eingeladen, die im evangelischen Gemeindehaus in Biedenkopf von ihrer Arbeit mit den ehemaligen Straßenkindern berichtet. Sophie Cyriax hat mit der 49-Jährigen über ihre Jahrzehnte in Kenia gesprochen.
Frau Nieswand, Sie sind als 19-Jährige nach Kenia gegangen, um Straßenkindern ein Zuhause zu geben, und sind 22 Jahre später zurück nach Deutschland gekehrt. Hat Afrika Sie schon losgelassen?
Afrika wird immer ein Teil meines Lebens bleiben, ein ganz wichtiger Teil. Zu vielen Kindern, die wir großgezogen haben, halte ich immer noch Kontakt, etwa über das soziale Netzwerk Facebook. Als ich einmal für längere Zeit in Kenia war, haben mich sehr, sehr viele der Kinder besucht, die einst in unserem Heim gelebt haben – obwohl ich mich bei niemandem angekündigt hatte. Wie durch ein Buschfeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, dass „Mama“ im Land ist. Die mittlerweile jungen Erwachsenen sind gekommen, haben mich eingeladen, mir ihre Familien und Arbeitsplätze vorgestellt. Das war wunderschön, da habe ich einen Teil dessen geerntet, was wir jahrzehntelang ausgesät haben.
Im Kinderheim Bindura haben über die Jahre hinweg rund 800 Kinder ein Zuhause und eine Perspektive bekommen, weil sie die Schule besuchen und eine Ausbildung absolvieren konnten. Macht Sie das stolz?
Stolz ist vielleicht das falsche Wort. Ich bin sehr dankbar, dass wir vielen ehemaligen Straßenkindern eine Perspektive geben konnten. Unter unseren einstigen Kindern sind heute Ärzte und Musiker, Anwälte, Handwerker oder Facharbeiter. Viele haben mittlerweile eine eigene Familie, leben in gefestigten Strukturen. Ihre Kinder nennen mich „Oma“. Das ist großartig. Aber wir konnten nicht allen Kindern helfen. Und manchmal mussten wir auch Kinder beerdigen, weil sie zu schwer krank waren oder verunglückt sind. Das sind die Momente, an die ich immer noch mit großer Traurigkeit zurückdenke.
Hat sich in den vergangenen Jahrzehnten etwas Grundlegendes an der Situation geändert, ist etwa die Zahl der Straßenkinder gesunken?
Kenia gilt als Drehscheibe Afrikas. Viele Hilfs- oder andere internationale Organisationen haben ihren Sitz in der Hauptstadt Nairobi. Der westliche Lebensstil ist also omnipräsent. Viele Kenianer wollen ihn kopieren, sehen sich etwa westliche Fernsehserien an und ahmen nach, was sie dort sehen – ohne einschätzen zu können, dass die Bilder und Geschichten, die sie dort sehen, mit der Realität nichts zu tun haben. Dadurch brechen traditionelle Familienstrukturen der afrikanischen Völker auseinander. Junge Mädchen beispielsweise werden schwanger und daraufhin von ihren Familien verstoßen. Sie landen auf der Straße und bringen dort ihre Kinder zu Welt, die in das Leben als Straßenkind hineingeboren werden. Andere Kinder beispielsweise werden einfach ausgesetzt, vor eine Kirche oder eine Polizeistation. Ohne Chance auf Bildung, die ihnen einen Ausweg bieten könnte. Die Kinder bleiben auf der Strecke.
…es sei denn, diese Kinder kamen mit Ihnen in Kontakt….
Ja, tatsächlich gab es Frauen, die ihre Kinder gezielt an Stellen ausgesetzt haben, von denen sie wussten, dass ich oder andere Mitarbeiter unseres Hauses vorbeikommen. Eine Frau kam viele Jahre später zu mir und erzählte, dass sie so lange hinter einem Busch versteckt geblieben ist, bis sie gesehen hat, dass ich ihr Kind genommen hatte. „Wir wissen, dass unsere Kinder nur bei Dir eine Chance haben“, hat diese Mutter zu mir gesagt. Das berührt natürlich zutiefst und entschädigt für alles, was dieses Leben an Entbehrungen gebracht hat.